“20 % meiner Tumorpatientinnen entwickeln urogenitale Beschwerden, deshalb ist der Schleimhautschutz Teil des Behandlungsplans”
Dr. med. Andre Rotmann ist Gynäko-Onkologe mit Facharztpraxen in Rodgau und Frankfurt. Die Naturheilkunde ist ein fester Bestandteil des jeweiligen Praxisangebots, darüber hinaus engagiert sich der Experte für integrative Onkologie in zahlreichen Fachgesellschaften. Seit Jahrzehnten ist die ganzheitliche Betreuung seiner Patientinnen ein wesentlicher Erfolgsfaktor seiner medizinischen Tätigkeit.
Täglich erfahren Sie, dass Frauen unter hormonellen Einflüssen wie den Wechseljahren oder antihormonellen Therapien eine Schleimhautproblematik entwickeln. Welche Beschwerden stehen dabei im Vordergrund?
Nach der Diagnose einer gynäkologischen Tumorerkrankung wie Ovarial- oder Mamma-Ca sind die meisten Patientinnen zunächst froh, wenn die konventionelle Therapie anschlägt, im Vordergrund steht das Überleben.
Erst wenn ich aktiv nachfrage, wie die Frauen ihre Lebensqualität bewerten, wie es um Partnerschaft und Sexualität bestellt ist, werden in den meisten Fällen Trockenheitsgefühle im Vaginalbereich beziehungsweise der Vulva genannt, also die atrophische Vaginitis oder Vulvitis. Auch ohne sexuelle Aktivität beeinträchtigen häufiger Harndrang und Blasenentzündungen die Lebensqualität der Betroffenen. Diese Schleimhauttrockenheit im Intimbereich betrifft onkologische Patientinnen und Frauen in den Wechseljahren gleichermaßen und dehnt sich häufig auch auf Nase, Mund und Augen aus.
Weniger schambehaftet und daher spontan benannt sind Gelenkbeschwerden mit morgendlicher oder im Tagesverlauf auftretender Steifigkeit, die im Rahmen von antihormonellen Krebstherapien leider sehr oft auftreten.
Darmprobleme in Verbindung mit onkologischen Therapien sind dagegen in meiner Praxis relativ selten.
“Bei Schleimhautproblemen empfehle ich für den systemischen Effekt in der Regel eine Nahrungsergänzung, wofür die AGO speziell unter Aromatase-Inhibitoren auch eine Empfehlung gibt.”
Dr. Andre Rotmann, Gynäko-Onkologe
Welche Maßnahmen empfehlen Sie den betroffenen Frauen? Wie wichtig erachten Sie diesbezüglich die Leitlinien-Empfehlungen?
Als Mitbegründer der AGO-Arbeitsgruppe Integrative Medizin (IMed) und der Mitwirkung an den S3-Leitlinien „komplementäre Onkologie“ der Deutschen Krebsgesellschaft erarbeite ich aktiv komplementäre Behandlungspfade. Die Komplementärmedizin ist unser klar kommunizierter Praxisschwerpunkt, deshalb finden Patientinnen uns gezielt und sind normalerweise sehr offen für komplementäre Maßnahmen.
Wenn die konventionelle Tumortherapie festgelegt wird, erläutere ich der Patientin diese Therapie, zeige ihr aber auch gleichzeitig komplementäre Möglichkeiten, damit sie die Behandlung möglichst gut verträgt. Auf diese Weise erfolgt in meisten Fällen von Beginn eine Kombination aus Schul- und Komplementärmedizin. Etwa jede zweite Patientin nutzt zum Beispiel unser Angebot einer Misteltherapie, womit wir bezüglich der Verträglichkeit und Compliance für die konventionelle Therapie sehr gute Erfahrungen gemacht haben, vor allem während der Behandlung mit Zytostatika.
Was ich jeder Patientin mitgebe, ist die Anleitung zu sportlicher Betätigung und gesunder Ernährung. Bei Schleimhautproblemen empfehle ich für den systemischen Effekt in der Regel eine Nahrungsergänzung, wofür die AGO speziell unter Aromatase-Inhibitoren auch eine Empfehlung gibt. Bei Mamma-Ca sind östrogenhaltige Präparate zwar generell kontraindiziert, doch hat die AGO der lokalen Applikation von Estradiol zugestimmt.
Generell sind Leitlinien für mich eine wichtige Orientierungshilfe, genauso wichtig ist aber meiner Meinung nach die ärztliche Erfahrung.
Sehen Sie bei Schleimhautproblemen einen Nutzen in Nahrungsergänzungsmitteln?
Ja, bei vielen Patientinnen konnte ich eine Besserung beobachten. Ich glaube, nicht umsonst empfehlen AGO-Leitlinien bei Mukositiden, die unter der antihormonellen Therapie auftreten, eine Kombination aus Papain, Bromelain, Selen und Lektin. Erwähnenswert ist meiner Erfahrung nach auch Biotin, was bekanntlich die Haut- und Schleimhautfunktion unterstützt. Grundsätzlich kommt eine solche Nährstoffkombination bei oraler Aufnahme allen Schleimhäuten des Körpers zugute – also nicht nur im Vaginalbereich, sondern auch in Mund, Magen, Darm und Gelenken.
Welchen Mehrwert bieten Präparate zusätzlich zu ausgewogener Ernährung?
Nahrungsergänzungsmittel haben den Vorteil, dass die Inhaltsstoffe in einer so hohen Konzentration zur Verfügung stehen, wie sie über die normale Ernährung nicht annähernd erreicht werden kann – das Enzym Bromelain aus der Ananas zum Beispiel befindet sich zum Großteil im ungenießbaren Teil der Frucht, sondern zudem kiloweise gegessen werden, um einen ähnlichen Effekt zu erzielen wie eine Tablette der entsprechenden Nahrungsergänzung.
Ich will betonen, dass eine Nährstoffsupplementation allein nicht ausreicht, vielmehr ist das nur ein Teil der ganzheitlichen Behandlung, denn Körper, Geist und Seele des Menschen sind auf komplexe Weise miteinander verbunden – das zeigt allein schon die Vernetzung der Schleimhäute: Ein Leaky Gut Syndrom kann Infekte der Atemwegs- oder Genitalschleimhäute, Allergien oder Depressionen begünstigen. Darum ist die umfassende komplementärmedizinische Unterstützung unserer Krebspatienten so notwendig und so nachhaltig erfolgreich.
Wie schaffen Sie es, bei Ihren Patientinnen mögliche Hemmungen zu überwinden, damit Beschwerden thematisiert und damit überhaupt therapierbar werden?
Es ist wichtig, die richtigen Fragen zu stellen, denn unaufgefordert sprechen die wenigsten Frauen über Schleimhautprobleme im Intimbereich. Aufgrund meiner langjährigen Erfahrung fällt mir die systematische, aber empathische Gesprächsführung leicht und ich erfahre in den jeweils 15 – 20-minütigen Besprechungsterminen vor und nach der konventionellen Therapie die wichtigsten Gesundheitsinformationen. Dabei muss ich mich auch zeitlich nicht auf reine Analysewerte beschränken, sondern kann mit dem ganzheitlichen Blick auf den Menschen so viel erfahren, dass ich auch umfassend helfen kann. Deshalb sollten Ärztinnen und Ärzte neben ihrer medizinischen Ausbildung auch im Hinblick auf die richtige Patientenkommunikation geschult werden. Wenn ich zum Beispiel bereits vor dem ersten Chemozyklus sage „Die Chemotherapie ist notwendig, um Krebszellen zu zerstören. Aber auch wenn dadurch Immunzellen geschwächt werden, können wir Sie mit einem naturheilkundlichen Präparat unterstützen, das Ihr Immunsystem stärkt. Damit sind Sie von allen Seiten so gut wie möglich versorgt.“
Auf diese Weise kann ich im Optimalfall einen Nocebo-Effekt vermeiden und die Compliance für die Tumortherapie erhöhen. Wenn ich die Sinnhaftigkeit der Maßnahme auf diese Weise kommuniziere, wird sie überwiegend gut angenommen, auch als Selbstzahler-Leistung.
Vielen Dank, Herr Dr. Rotmann, für das Gespräch!